2022

Residenz am 9. Fanfaluca

auf der stillgelegten Eniwa Kraftwerkinsel in Aarau

INTRIGE - Magazin für junges Theater - Tamea Wissmann, 19. September 2022

"WENN ALLE EINFACH BEHAUPTEN, DANN FUNKTIONIERT ES"

In der alten Fabrikhalle der Eniwa in Aarau stehen die Jugendlichen der AG Theater Rämibühl Schulter an Schulter im Kreis. Sie halten sich an den Händen. Es ist nun an der Zeit, sich noch ein letztes Mal zu sammeln. In wenigen Minuten werden sich alle in ihre Kostüme werfen und noch einmal gemeinsam durchgehen, was sie in den vergangenen drei Tagen erarbeitet haben, bevor es ernst wird und sie das Ganze einem Publikum präsentieren werden. Das Aarauer Theaterfestival Fanfaluca bietet jedes Jahr drei Theatergruppen die Möglichkeit, während drei Tagen auf dem stillgelegten Fabrikgelände der Eniwa frei zu experimentieren. Während dieser sogenannten ‘Residenzen’ lassen sich die Gruppen von diesem Ort inspirieren, der auf einer Insel mitten in der Aare liegt. In den abschliessenden Showings präsentieren die Gruppen der Öffentlichkeit, woran sie während der drei Tage gearbeitet haben.

Im Kreis ist noch keine Ruhe eingekehrt. Die Jugendlichen sind müde von den intensiven Tagen, die sie hinter sich haben und immer wieder löst sich ein unterdrücktes Kichern aus den Reihen. Joachim Aeschlimann, der Regisseur und Leiter der Gruppe, hält die Jugendlichen mit ruhiger Stimme an, jetzt in sich zu gehen. Gemeinsam singen sie Bajuschki Baju, das Schlaflied, welches auch im bevorstehenden Showing zu hören sein wird. Jetzt kehrt der Fokus schnell zurück. Jede einzelne Person weiss, was sie zu tun hat. Was jetzt nicht ganz sitzt, wird einfach behauptet. Vor nicht einmal zwei Stunden führte die Gruppe noch eine rege Diskussion darüber, ob «das mit den Streikzetteln» vielleicht doch keine gute Idee sei. Schliesslich waren sich alle einig: Dieser Teil wird gestrichen.
Neben der AG Theater Rämibühl zeigen die drei Frauen der Gruppe Pedala aus Zürich und die Bewegungstheatergruppe Grande Giro aus dem Tessin, wozu sie auf der Kraftwerksinsel inspiriert wurden. Beim abschliessenden Gespräch werden sie alle sagen, es sei erstaunlich, wie unterschiedlich die Performances geworden sind. Bereits in der Nutzung des Raumes gibt es grosse Unterschiede: Pedala beispielsweise spielen in einer leeren Garage, ganz im Gegensatz zu Grande Giro, die das Publikum mit ihrer clownesken Performance einmal quer über den ganzen Vorplatz des Fabrikgebäudes führen.

HARTE ARBEIT

Die AG Theater Rämibühl ist die gemeinsame Schultheatergruppe von vier Zürcher Gymnasien - geleistet von Joachim Aeschlimann, Sabina Aeschlimann und Daniel Riniker. Weil das neue Schuljahr gerade erst begonnen hat, ist das Ensemble des vergangenen Schuljahres ans Fanfaluca gereist. Entsprechend gibt es einige Mitglieder, die im Sommer ihre Matura abgeschlossen und die Schule eigentlich verlassen haben. Dass sie für die Festivalwoche trotzdem nochmals zur Gruppe dazugestossen sind, zeigt, wie sehr das Theaterspielen die Schüler:innen zusammengeschweisst hat. «Die drei Tage waren eine mega intensive Zeit, der Aufwand hat sich aber definitiv gelohnt», meint Leo Waltenspül, Mitglied der AG und einer der ‘Rückkehrer’, welche die Matura bereits hinter sich haben.
Die Gruppe ist am Fanfaluca im Übrigen nicht nur in Residenz, sondern hat hier am Dienstagabend auch ihr Stück alles ist gut vom vergangenen Sommer nochmals aufgeführt. Alicia Löffler, ebenfalls Mitglied der AG, betont, wie inspirierend es war zu sehen, dass mit dem Ensemble von alles ist gut in drei kurzen Tagen nochmals etwas ganz Neues entstehen konnte. Mit einem Ensemble von rund zwanzig Leuten in dieser Zeit etwas auf die Beine zu stellen, will gut geplant sein: Am Mittwoch wurden in Kleingruppen Ideen gesammelt und aus diesen am Donnerstag und Freitag eine etwa zwanzigminütige Performance entwickelt. Die Jugendlichen und Joachim Aeschlimann mussten viel diskutieren, sich zugleich schnell einigen und immer wieder Dinge anpassen. Die Spielerin Alex Gut sagt, es sei während der Arbeit besonders wichtig gewesen, sich nicht zu früh auf eine bestimmte Idee zu versteifen und Festgelegtes immer wieder zu überdenken. Das Fanfaluca stellte der AG Mikrofone, Scheinwerfer und Lautsprecher zur Verfügung. Die Requisiten – unter anderem einige lange Plastikrohre, ein riesiges metallenes Rad sowie Tische und Stühle – haben die Jugendlichen auf dem Gelände gefunden und zusammengetragen.

STREIK IN DER FABRIK

Nun ist alles bereit für das Showing. Das Publikum wartet auf dem Vorplatz des Fabrikgebäudes auf das OK der Spielenden. Durch eine Seitentür geht es eine Treppe hinauf in einen Raum, der früher von Arbeiter:innen der Eniwa Fabrik als Umkleide genutzt wurde. Beim Betreten fällt ein Zettel ins Auge: «Triggerwarnung Tod», steht darauf. Das Zimmer ist in rotes Scheinwerferlicht getaucht. In den grossen Schliessfächern an der Wand liegen bewegungslos sechs Spielende. Um ihre Hälse sind Schals gewickelt, als wären sie erhängt worden. Nun entwickelt sich in diesem Zimmer eine schauderhafte Szene: Während die sechs Spielenden mit ausdruckslosen Stimmen Bajuschki Baju singen, steigt plötzlich der Rest der Gruppe wie Zombies aus den restlichen Schliessfächern und fällt in den Gesang mit ein. Hand in Hand mit den Spielenden und begleitet von ihrem Gesang wird das Publikum treppab in die grosse Fabrikhalle geführt. Was hier passiert, ist ganz anders als die Zombies aus der Umkleide. Mit viel Bewegung und zu wummernder Musik spielt die AG einen kommunistischen Arbeiter:innenaufstand in der Eniwa Fabrik, der übergeht in eine groteske Modenschau, in der die Jugendlichen, gekleidet in Plastikfolie mit Eniwa-Aufdruck, über einen Laufsteg aus Tischen stolzieren. Die Bewegungen werden immer schneller und lauter, bis die Kakofonie auf ihrem Höhepunkt explodiert. Es dauert lange, bis im Publikum die ersten Klatscher die dröhnende Stille durchbrechen.

14.-16. September 2022

Tickets hier

DOKUMENTATION